SRF Doku: Hochsensibilität bei Männern – Reizüberflutung bis zum Burnout?

Jede fünfte Person ist hochsensibel und nimmt Reize besonders intensiv wahr – was oft zu starken Emotionen führt. Betroffene Männer neigen häufiger dazu, ihre Gefühle zu unterdrücken. Nicht selten endet das mit Depressionen oder in einem Burnout.

Hochsensibilität ist für viele Männer noch immer ein Tabu. Im Gespräch mit rec.-Reporter Simon Reinker brechen Betroffene ihr Schweigen und erzählen von ihrem Leidensdruck. «Die negativen Gefühlswellen schwappen über mich und es hört und hört nicht auf.» Früher hat sich Flurin gefragt, weshalb es ihm emotional so viel schlechter als anderen geht. Seit er weiß, dass er hochsensibel ist, hat er zumindest eine Erklärung. Adrian erging es ähnlich. Vor zehn Jahren erlitt der Lehrer ein Burnout. Seit ihm klar ist, dass er hochsensibel ist, vermag er sich besser zu schützen – indem er sich Pausen gönnt und Grenzen nicht überschreitet. Aber die Hochsensibilität hat, laut Flurin, auch ihr Gutes und sei manchmal wie eine Superkraft. Seine empathische Art sei wie ein Türöffner in die Herzen.

© SRF Schweizer Rundfunk (02.09.2024), hier der Link zur Mediathek SRF

Dauer: 20 Min, Deutsche Untertitel verfügbar (rechte Mouse-Taste)

Hochsensibilität: Bin ich nur feinfühlig oder überempfindlich? (SWR1, 2023)

Bin ich hochsensibel? Wie ihr Feinfühligkeit erkennen, verstehen und nutzen könnt. Und: wie sich die negativen Seiten der Hypersensibilität umgehen lassen.

»Überempfindlich für Lärm, Gerüche oder andere sinnliche Reize und das so krass, dass man viel schneller erschöpft ist als andere und man im Alltag da ganz schön drunter leidet.« Youtube-Channel „PsycholoGeek“ von „funk“ (ARD/ZDF)

Hier der Beitrag zum Anhören oder Download beim SWR1:

Neurodiversität in der Psychotherapie: Vielfalt als neue Normalität

Was ist Neurodiversität?

Der Begriff Neurodiversität wurde erstmals Anfang der 1990er Jahre unter anderem von der australischen Soziologin Judy Singer benutzt, um darauf hinzuweisen, dass es eine Vielfalt, also eine Diversität, von Hirnfähigkeiten gibt (Singer, 2017). Judy Singer, die selbst von Autismus betroffen ist, beschrieb die Wichtigkeit der persönlichen Erkenntnis, dass die Ansprüche der »normalen« Welt um sie auf statistisch häufigen Annahmen von Hirnfähigkeiten beruhen. »Normale« Hirnfähigkeiten sind demnach nicht die einzig richtigen oder gesunden, sondern einfach die statistisch häufigen. Sie selber konnte ihre eigenen Hirnfähigkeiten folgerichtig als »selten« oder »divers« beschreiben und nicht mehr notwendigerweise als »unnormal“ oder »krank«. Daraus ergibt sich, dass die früher als »normal« bezeichneten Hirnfähigkeiten nun einfach nur als »neurotypisch« bezeichnet werden können. Der Begriff »Normalität« wird wieder frei für die Tatsache, dass Diversität normal ist, dass es normal ist, dass es seltene Hirnfähigkeiten gibt. Für die klinische Praxis bedeutet das, dass ein Patient, der bisher diagnostisch als ’norm-abweichend‘ betrachtet wurde, nun als neurodivers angesehen wird. Die Therapieansätze können sich entsprechend ändern, weg von der Idee, die Person »normal« machen zu müssen, hin zu einem Ansatz, der ihre spezifischen Bedürfnisse und Stärken berücksichtigt.

Welche Störungsbilder greifen auf das Konzept der Neurodiversität zurück?

Störungsbilder wie eine Autismus-Spektrum-Störung, ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom << z.B. ADHS / ADS / HSP>>, eine Teilleistungsschwäche, ein Fetales Alkoholsyndrom und viele genetische Syndrome werden im Wesentlichen durch verschiedene Ausprägungen von unterschiedlichen Hirnfähigkeiten klinisch relevant. Am häufigsten wird diese Diversität der Hirnfähigkeiten bei

  • der Wahrnehmungsverarbeitung,
  • dem Arbeitsgedächtnis,
  • der Impulskontrolle,
  • der Aufmerksamkeitsleistung,
  • der kognitive Flexibilität und
  • den sozial-emotionale Fähigkeiten


beschrieben.

All diese Fähigkeiten sind Bausteine, um in einer Welt mit neurotypischen Anforderungen und Erwartungen relativ leicht und reibungslos eine erfolgreiche Teilhabe zu erreichen.

Menschen mit »diversen« Hirnfähigkeiten scheitern oft an den neurotypischen Anforderungen ihrer Umwelt und werden wegen ihrer Anpassungsschwierigkeiten als »krank« bezeichnet. Aber ist es per se krank, wenn ein junger Mensch keine lauten Geräusche verträgt? Wenn ein junger Mensch häufige Methodenwechsel benötigt und nicht still sitzen bleiben kann? Ist es wirklich an sich krank, wenn sozial-emotionale Anforderungen intensiver als sonst erläutert und begleitet werden müssen? Wenn Aufgaben klarer und strukturierter gestellt werden müssen? Wenn das Arbeitsgedächtnis durch Aufgabenlisten und Erinnerungen unterstützt werden muss?

Neurodiversität an sich ist keine Krankheit

Forschungen und Weiterentwicklungen des Konzeptes von Neurodiversität zeigen, wie wichtig das Selbstbild speziell von Menschen mit einer Neurodiversität ist (Zimpel & Hurtig-Bohn, 2016). Dieses sich entwickelnde Selbstbild scheint ab den ersten Symptomen an stark davon beeinflusst zu sein, ob ein Verhalten als eine Krankheit oder als Folge einer Überforderung angesehen wird. Eine Überforderung, die entsteht, wenn die Anforderungen und Erwartungen der Umwelt nicht den Möglichkeiten des Individuums entsprechen.

Ähnlich wie in der Natur, in welcher Vielfalt wichtig ist, um das gesamte ökologische System gesund zu halten (die sog. Biodiversität), ist auch in der Gesellschaft Vielfalt gesund. Diversität verschafft neue Impulse und Entwicklungsmöglichkeiten. Und Diversität kann auf Schwachstellen von aktuellen Entwicklungen hinweisen, wenn zum Beispiel immer mehr Menschen mit ihren Anpassungsmöglichkeiten an ihre Grenzen kommen. Wir als Gesellschaft können unsere Schlüsse aus solchen Überlastungen von Einzelmenschen ziehen. Wir müssen uns dankbar fragen, ob wir diese Art von sozialer Belastung und Herausforderung tatsächlich wollen. Wir können uns fragen, in welcher Art von sozialer Struktur wir leben wollen, mit welchen Teilhabemöglichkeiten von möglichst vielen Menschen.

Diversität und Hilfebedarf

So treffend der Begriff Neurodiversität ist, so gibt es natürlich auch Vorbehalte und Kritik. Zum einen beschreibt der Begriff Neurodiversität das gesamte Spektrum der Hirnfähigkeiten, d.h. Menschen mit neurotypischen Fähigkeiten sind Teil der Diversität. Begriffe wie Neurodivergenz oder Neurominorität sind entstanden, um eingeschränkte oder abweichende Hirnfähigkeiten zu benennen, haben aber ihre eigenen Schwierigkeiten. Es gibt auch den Vorbehalt, dass der Begriff Neurodiversität den Eindruck erweckt, dass Anderssein immer genial und bereichernd ist.

Manche Menschen sind aber in ihren Fähigkeiten so anders, dass eine Teilhabe stark eingeschränkt ist und dass ein starker Leidensdruck bei dem Individuum selber oder bei der Umwelt entsteht. Das heißt, dass Anpassungsversuche der Umwelt nötig sind, welche einerseits angeboten werden müssen, welche aber auch von den betroffenen Personen eingefordert bzw. akzeptiert werden müssen. Hilfe kann sich wie eine Überwältigung anfühlen; ein Hilfsangebot wie eine Abwertung.

Die Wichtigkeit vom Selbstverständnis

Die Idee der Neurodiversität mit einem klaren Bekenntnis nicht nur zu den genialen Seiten des Andersseins, sondern auch zu der Tatsache, dass Anderssein Schwierigkeiten mit sich bringen kann, fordert ein neues Verhältnis zu eigenen Unzulänglichkeiten heraus. Wie stark ist es in unserer Gesellschaft Hilfe einzufordern? Wie akzeptiert ist es, etwas nicht zu können und dies auch laut zu sagen, damit es gemeinsam und mit Unterstützung besser klappt?

Damit der Gedanke der Neurodiversität nicht nur für hochfunktionale Menschen mit Autismus eine Selbstbestätigung der eigenen Besonderheit bleibt, braucht es das Angebot der Gesellschaft, dass es stark ist, sich mit den eigenen Schwächen zu beschäftigen. Dass es erwachsen und sozial reif ist, Hilfe einzufordern und in Anspruch zu nehmen. Hier kann jede:r einzelne von uns Therapeut:innen den Boden dafür bereiten, dass das Selbstverständnis der Betroffenen und der Menschen in ihrem Umfeld (wie wir Therapeut:innen selbst, Eltern und Erzieher:innen) flexibel genug ist, um eine erfolgreiche Teilhabe zu ermöglichen.

Eine Aufgabe von uns als Behandler:innen ist es, unsere Patient:innen zu befähigen, ihre neurodiversen Hirnfähigkeiten im Spektrum von Schwäche/Stärke und Einschränkung/Potential zu betrachten. Indem wir einen Raum schaffen, der frei von Stigmatisierung ist, fördern wir ein Selbstverständnis, das sowohl die positiven als auch die herausfordernden Aspekte des Andersseins umfassen darf.

Unsere therapeutische Unterstützung kann dazu beitragen, dass die Betroffenen lernen, ihre individuellen Einschränkungen, Stärken und Bedürfnisse klar zu kommunizieren und dabei Hilfe als wichtige Ressource zu begreifen, die ihre Lebensqualität verbessern kann. Durch den Einbezug von Eltern, Erzieher:innen und Freunden in den Therapieprozess schaffen wir dabei nicht nur ein tieferes Verständnis für die Neurodiversität, sondern sind selber ein Modell für Inklusion und gegenseitiger Unterstützung.

Literatur

Singer, Judy (2017). NeuroDiversity: The Birth of an Idea.
Zimpel, A.F. & Hurtig-Bohn, K. (2016). Autismusspektrum und Neurodiversitätsforschung. Normal ist doch verschieden – Verschieden ist doch normal. Praxis Sprache, 4, 245-250.

Autor


Jörg Liesegang ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Verhaltenstherapeut und Systemischer Supervisor (DGSv). Als Oberarzt am Evangelischen Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge in Berlin leitet er eine Tagesklinik sowie die Psychiatrische Institutsambulanz mit der Spezialsprechstunde u.a. für Fetale Alkoholspektrumstörung. Schwerpunkte seiner Arbeit sind zudem die Ermöglichung von Teilhabe bei psychischen Behinderungen. Bei Beltz hat er das Kartenset »Ich kann das anders! Neurodiversität verstehen. 100 Karten für die Therapie mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen« und das Fachbuch »Fetale Alkoholspektrumstörung (FASD) bei Kindern und Jugendlichen. Praxisbuch zur Teihabe-Ermöglichung« veröffentlicht.

(C) 2024 und vollständiger Artikel hier beim Beltz Verlag

HSP – Hochsensibilität

Bin ich nur feinfühlig, oder hochempfindlich?

Psychologischer Test: Bin ich eine HSP (Highly Sensitive Person)?

Prof. Corina Greven widmet sich diesem noch jungem Forschungsfeld „Hochsensibilität“. 1997 wurde der Begriff erstmals wissenschaftlich erwähnt, gesellschaftlich war es durch den Bestseller „Sind Sie hochsensibel?“ der US-Psychologin Elaine Aron bereits ein Thema – sie hat auch einen entsprechenden Hypersensibilitäts-Test entwickelt. Hier der Beitrag im ARD – SWR-1: